Heute ein Beitrag von Dr. Peter Döge, der als promovierter Politikwissenschaftler seit Jahren in der Politikberatung und - forschung tätig ist. Dabei hat er sich auch eingehend mit Männern sowie Männlichkeiten beschäftigt und auch zahlreiche Männerseminare durchgeführt.
Was sagt die Männer-Gewaltforschung?
Im März diesen Jahres veröffentlichte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte eine Studie zur Gewaltbetroffenheit von Frauen – und die Geschlechterwelt schien auch wieder in Ordnung zu sein: denn – wie die Studie zeigt – hat jede dritte Frau jenseits des 15. Lebensjahrs in Europa körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Aber was ist mit den Männern? Alle nur Täter und nur Frauen Opfer? Ganz so einfach ist es aber nicht, denn hätte die Agentur – wie es zu Zeiten von Gender-Mainstreaming eigentlich selbstverständlich sein sollte - auch Männer mit in die Studie einbezogen, hätte sich ein viel differenzierteres Bild von Gewalthandeln und Gewaltbetroffenheit gezeigt. Es wäre deutlich geworden, dass – wie zahlreichen Studien der Männergewaltforschung zeigen – auch Männer zu einem nicht unerheblichen Maße Opfer von Gewalthandlungen sind und dass sehr wohl auch Frauen Gewalt ausüben.
Was aber ist eigentlich Gewalt? In der Regel verstehen wir unter Gewalt Handlungen, die sich gegen die körperliche Unversehrtheit eines oder einer anderen richten: also Schläge, wobei körperliche Gewalt umso intensiver und folgenschwerer erscheint, je stärker die Schläge sind. Wird – wie in der feministisch ausgerichteten Gewaltforschung üblich – dieser Gewaltbegriff zugrunde gelegt, sind im Bereich der häuslichen Paargewalt tatsächlich fast ausschließlich Männer die Täter: 75% der schweren physischen Gewalthandlungen werden von ihnen ausgeübt. Werden aber auch leichtere körperliche Gewaltakte berücksichtigt (z.B das Werfen mit Gegenständen oder das Schlagen mit der flachen Hand), stellt sich – wie zahlreiche Studien der sog. „Family Violence“- Forschung insbesondere im anglo-amerikanischen Raum gezeigt haben - schon fast eine Gleichheit der Geschlechter im Hinblick auf das Gewalthandeln ein: „Ohrfeigen“ beispielsweise werden zu gleichen Teilen von Frauen und Männern verteilt.
Wendet man den Blick über die Familie hinaus zeigt sich, dass Männer generell durchweg häufiger Opfer körperlicher Gewalt werden als Frauen. Gewalt ist aber nicht nur körperliche Gewalt. Gewalt kann zunächst ganz allgemein verstanden werden als eine Handlung, die darauf zielt, einem Gegenüber – etwa im Zugang zu notwendigen Ressourcen oder zur Durchsetzung einer vermeintlich richtigen Weltanschauung – bewusst Leiden zuzufügen und ihn zu schädigen. Ein großer Teil von Gewalt ist dabei auch psychische Gewalt, etwa Beleidigungen, Erniedrigungen, Kontrolle des privaten Bereichs. Wie alle Befunde zum Thema Mobbing nahe legen, können die Folgen psychischer Gewalt für den / die Einzelnen weitaus folgenreicher sein als die Folgen körperlicher Gewalt: die Seele verheilt bisweilen viel langsamer als der Körper.
Legt man einen um die psychische Dimension erweiterten Gewaltbegriff zugrunde, ergibt sich eine weitgehende Geschlechtergleichheit im Gewalthandeln: etwa 30% der Frauen und Männer gaben in meiner Gewaltstudie zu, in den letzten 12 Monaten vor der Befragung, gegen eine andere Person psychische oder physische Gewalt ausgeübt zu haben. Dabei zeigt sich dann ein geschlechtsspezifisches Muster dahingehend, dass Frauen stärker von psychischer, Männer stärker von körperlicher Gewalt betroffen sind. Insgesamt sind auf der Basis eines weiten Gewaltbegriffs Männer und Frauen in etwa zu gleichen Teilen von Gewalthandlungen betroffen. Dabei ist es auch keineswegs zutreffend, dass Familie nur ein Ort der Gewalterfahrung von Frauen ist, denn auch Männer nennen diesen Ort an erster Stelle. Jedoch ist die Betroffenheit von Frauen hier größer als die der Männer, wobei beide Geschlechter in etwa zu gleichen Anteilen Gewalthandlungen vom Partner erfahren. In etwa zu gleichen Teilen werden Frauen und Männer auch Opfer von Gewalt am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum.
Eine weitere Form von Gewalt ist sexualisierte Gewalt. Handlungen also, die gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des / der Einzelnen gerichtet sind. Gibt man Männern in einer Untersuchung die Chance, anonymisiert über die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt zu berichten, findet sich in den entsprechenden Studien immer eine fast so hohe Betroffenheit wie bei Frauen. Sexualisierte Gewalt erfahren Männer dabei nicht nur in der Familie und nicht nur von der Partnerin und / oder einem Erziehungsberechtigten, sondern als Jugendliche in Internaten oder Heimen, als Jugendliche und Erwachsene in Gefängnissen, beim Militär und ganz besonders in Kriegssituationen.
Leider werden die vorliegenden Befunde der Männergewaltforschung nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Zu tief scheint noch immer das Bild vom Mann als Täter, als Macher verankert zu sein – und nicht zuletzt bei uns Männern selber! Denn wer will schon „Opfer“ sein? Aber nur wenn Männer ihre potenzielle Verwundbarkeit und Schwäche akzeptieren und wenn Frauen vom Macht-Mann-Bild verbunden mit dem Frau-Opfer-Bild endlich Abschied nehmen können beide Geschlechter gewinnen: denn sie können wieder einen Schritt weiter gehen auf dem Weg zum ganzen Menschen, der in seiner Ganzheitlichkeit im Notfall gezielte Unterstützung erhalten kann.
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